Montag, 13. Oktober 2014

Einen Fernsehturmwärter bestechen, den Mond besteigen und Panzerkolonien beobachten


Den Li per Kayak erkunden


Zunächst einmal ein paar Links zu Seiten, wo ihr weniger trockene Kost als bei mir bekommt und mit tollen Bildern der letzten zwei Monate versorgt werdet:

Zum einen ein paar Bilder von Cristina:

Sowie der Blog und ein paar Bilder von Max:


Ping’an hatte uns mit der langen Bahnreise in jedem Fall versöhnt, in Guilin  hatte das Barbecue bei den Wada-Girls (wie sich die Chinesinnen, die das gleichlautende Hostel betreiben,  selber nennen) die vom Wandern ermüdeten Wanderer wieder gestärkt, so dass Max, Cristina und ich voller Vorfreude auf den nächsten Morgen in Yangshuo waren.

Zuerst musste jedoch die Busfahrt überlebt werden. Wir hatten das große Glück, als erste einzusteigen, doch bald füllte sich der Bus bis auf den letzten Plastikhocker, der in den Gang gestellt wurde. Zu Füßen von Cristina und Max wurde auch noch ein Ehepaar gequetscht, die relativ gut Englisch sprachen, und wenn wir nicht zu geschockt vom Fahrtstil des Busfahrers waren, war sogar ein wenig nette Unterhaltung möglich.
Noch Sitz- oder Stehplätze? Nein? Aber die Gepäckablage ist doch noch frei, wo ist das Problem?
Leider nicht so häufig, da es der Fahrer vorzog, seinen vollbesetzten Reisebus auf einer zweispurigen Straße mit ständigem Gegenverkehr unter Nutzung seiner einem Schiffshorn gleichenden Hupe (die war sicher NICHT serienmäßig ab Werk) einem dauerhaften Überholvorgang auszusetzen. Vielleicht fahr ich doch lieber Zug mit Reisschnapps-saufenden Chinesen, deren Zahnhygiene seit den Zeiten Maos nicht mehr stattgefunden hat.

Wir kamen jedenfalls gesund und fast auch munter an, bezogen nach ein wenig Sucherei unser Hostel und planten den Rest des Tages. Da wir so früh in Guilin losgefahren waren, hatten wir die Möglichkeit, nachmittags den Li mittels Kayak zu erkunden, der durch die Karstlandschaft fließt und diese auch größtenteils geformt hat.

Erste Eindrücke von Yangshuo - oben die trubelige Hauptstraße, unten der Li-Fluss vollgestopft mit Bambusfloßen; die ruhigere Stadtseite ist gegenüber

Noch kurz ein paar wichtige Picknickutensilien (Tsingtao!) erstanden, wieder in einen Bus gestiegen und eine halbe Stunde außerhalb der Stadt am Fluss ausgesetzt, wo ein braungebrannter, mittelalter Klischee-Chinese mit Schilfhut, Bambusfloß und den Kayaks auf uns wartete. Auf Schwimmwesten wurde Wert gelegt, der Rest war 2 ½ Stunden großer Spaß: Sportlich forsch voranpaddelnd (am Anfang) oder sich gemütlich vom Fluß stromabwärts treiben lassend (sehr bald danach) glitten wir durch die bizarre Landschaft mit ihren Zuckerhüten-ähnlichen Bergen. Am Flußufer schnorchelten dort lebende Jugendliche nach Krebsen und anderen Köstlichkeiten, Wasserbüffel lagen im flachen Uferwasser um der Hitze des Tages zu entgehen, Reiher jagten nach Fischen und Bauern ernteten den in den tieferen Lagen schon reifen Reis auf den Feldern in Flußnähe. In den Stromschnellen merkten wir bald, dass es leicht ist, Schlagseite zu bekommen – gekentert ist trotzdem niemand.

Bestes Fortbewegungsmittel, vor allem stromabwärts!
 
Geniale Tour!
Der Vorteil dieser Tour war, dass wir in Flußgegenden kamen, die der Großteil der Touristen mit einem Bambusfloß oder einem Dampfer nicht erreichen kann oder will – wir waren angenehm allein und konnten die Landschaft ohne ohrenbetäubenden Motorlärm der Bambusflöße genießen. Als Resultat hatte sich auch unser Bedürfnis nach einem überall angebotenen „river cruise“ auf ein Minimum reduziert. Max veranlasste dies, sein Chinesisch mit den Schleppern zu üben und ihnen halb Chinesisch, halb Englisch zu erklären, was er alles nicht kaufen möchte: „Ni hao! Ni hao ma? Wo bu yau post card, bu yao river cruise, bu yao bamboo raft, bu yao pashmina, bu yao motor cycle, xie xie. Zai jian!“ – „Guten Tag! Wie geht es Dir? Ich möchte keine Postkarte, Flusskreuzfahrt, Bambusfloß, Paschmina oder Motorrad, danke sehr. Auf Wiedersehen!“ worauf hin sich die Schlepper wegschmissen vor Lachen über den merkwürdigen Foreigner, der unheimlicherweise sogar ein paar Wörter Chinesisch kann.


Cristina stellte sich als Schnäppchenjäger und harte Händlerin heraus, die einen eineinhalbstündigen Ausflug durch die Stadt unternahm, um Fahrräder zu finden, die für 10 statt für 20 Yuan zu leihen waren – ich war beeindruckt.

Unser Ziel war der Mondberg, ein Bogen mit ca. 30m Innendurchmesser in einem der Berge in der Nähe von Yangshuo. Am Fuß des Bergs hieß uns nicht nur eine ältere Dame willkommen, die durch ihre Fröhlichkeit, Kontaktfreude und Verkaufsfähigkeit für kalte Getränke sofort auffiel. Wir hatten uns freilich im Vorhinein eingedeckt und leider keinerlei Bedarf, aber das störte keinen großen Geist, - wir könnten ja nach dem Abstieg nochmal vorbeikommen? Gerne durften wir ein Bild machen – und entdeckten beim nachmittäglichen Durchstöbern der einschlägigen sozialen Netzwerke unter dem Hashtag #moonhill vor allem Bilder genau dieser netten Dame.
Der Mondberg
Ein junger Rucksacktourist unklarer Herkunft (Baltikum? Skandinavien? Der Akzent war schwer zu interpretieren) gesellte sich zu uns und gab uns den Tipp, oben knapp unterhalb des Loches ein Schild, dass die Nutzung eines kleinen abzweigenden Pfades untersagte, auf jeden Fall zu ignorieren; es würde sich lohnen.
Gespannt, was uns erwartete, machten wir uns auf den Weg und hatten auch bald die 300 Höhenmeter bis zum Bogen überwunden, Ein perfekter Halbkreis hat sich hier gebildet, Bohrhaken und auf Redundanz konstruierte Seilumleitungen deuten darauf hin, dass dieser Teil des Bergs auch zum Klettern genutzt wird. Cristina und ich bekamen sofort Lust, sie hatte sogar ihre Kletterschuhe dabei, aber ohne Seil und Sicherungsausrüstung war es natürlich völlig unmöglich. Wir genossen den Ausblick und fanden nach kurzem Suchen auch den erwähnten Pfad, auf den man erst durch das auffällig gestaltete Verbotsschild wirklich aufmerksam wurde.

Der Bogen
Der war weder freigeschnitten noch für Europäer gemacht. Wie die Minenarbeiter duckten wir uns durch den grünen Tunnel und arbeiteten uns ca. 50 Höhenmeter durch Gestrüpp nach oben, bis wir ins Freie kamen und merkten – wir sind AUF dem Bogen. Hier war der Ausblick atemberaubend, niemand war mit uns hier und wir genossen die Ruhe, die Sonne und unser Picknick.
Blick vom Mondberg

Ein Franzose gab uns  auf dem Gipfel den Tipp, über das Flusstal des Yulong zurück nach Yangshuo zu fahren, das sei einerseits landschaftlich wunderschön und zweitens ein wenig abgeschiedener.
Das wollten wir auch; dann merkte Max aber, dass sein Vorderrad nicht mehr an seinem Fahrrad festgeschraubt war und irgendwie hatten wir einen Abzweig des Landsträßchens verpasst. Schwuppdiwupp hatten wir uns völlig verfahren und sitzen irgendwo am Land in einem kleinen Dörfchen, der Mechaniker der Dorfkneipe reparierte rührenderweise Maxens Fahrrad, wir hatten als Dankeschön dort drei kühle Bier gekauft und sahen der Sonne zu, wie sie immer weiter hinter den Karstbergen versank und sich im Wasser spiegelte.

Abendstimmung am Yulong
Trotz unserer chinesischen Sprachkenntnisse sowie dank der Ortskenntnis der Landbevölkerung waren wir tatsächlich relativ bald wieder auf dem richtigen Weg.
Unsere Jugendherberge hatte uns den Weg zum Fernsehturm genannt, der auf einem Karstberg mitten in Guilin steht – anscheinend einer der schönsten Orte für den Sonnenuntergang. Für unseren letzten Abend sollte dies einen angemessenen Abschluss darstellen.

Wir stiegen 350 Höhenmeter einen Bergpfad hinauf und wurden vom Fernsehstationswärter begrüßt, den wir mit 5 Yuan bestachen, uns in die Station und damit auf den Gipfel zu lassen. Dies sei üblich, so hatte uns die Jugendherberge informiert. Wir wurden durch den Natodraht gelassen und hatten einen phänomenalen Ausblick.
Xing Lintao, oberster Fernsehantennenwärter des CCTV Yangshuo
Sonnenuntergang über Guangxi
Ein köstliches Abendessen  und eine Partie chinesisches Schach (Max hatte ein Spiel gekauft; es erweitert herkömmliches Schach um einen Grenzfluss, eine Leibwache des Königs die ihm nicht von der Seite weichen darf, sowie um Kanonen – sehr spannend) in der wirklich gemütlichen Jugendherberge beschlossen den Abend. Max war wahnsinnig motiviert noch weiter zu spielen, ich war von Sonne, Wind und Radlerei wahnsinnig motiviert ins Bett zu gehen.
Chinesisches Schach
Damit neigte sich unsere Zeit in Yangshuo auch schon dem Ende zu, und ein weiteres Mal bereiteten wir uns auf 27 Stunden Zugfahrt vor. Wie funktioniert das generell? Ist doch klar, gehst zum Bahnhof, steigst in den Zug ein und ab dafür.
Den Wasserbüffeln ist's zu warm
Nicht ganz: Zugfahren ähnelt, allem Chaos während der Fahrt zum Trotz, im Vorhinein eher einem Inlandsflug, umso mehr, wenn Distanzen wie die zwischen Guilin und Beijing zurückgelegt werden sollen.

Zuerst einmal gingen wir zu einem Supermarkt und deckten uns mit den nötigen Utensilien für über einen gesamten Tag ein. Dies sieht für uns drei, Cristina, Max und ich jeweils sehr unterschiedlich aus:


Cristina ist sehr gesund unterwegs:
  •       Ein paar Früchte wie frische Mandarinen
  •       Gemüse, dass sie am Heißwasserspender im Zug wäscht
  •       1,5l Wasser
  •       ein wenig Tee
  •       1 Packung getrocknete Bananenchips
  •       1 Packung Kekse aus gestampftem Sesam und Honig

Max nimmt das Ganze pragmatisch:
  •       Kurz vorm Zug gibt’s zwei gegrillte Hähnchenschenkel von einem Straßenstand. Die werden allerdings sofort verzehrt.
  •       1 Packung chinesischer Madeleines,
  •       Ein paar Packungen Peanuts
  •       6 kleine Bier, also 1,8l (vulgo „Schlafmittel“)
  •       3l Trinkwasser

Meine Präferenz liegt klar auf Masse:
  •       3x chinesische Fertignudeln, die mit chinesischem Hühnerbrühekonzentrat versetzt sind und durch den Heißwasserspender im Zug zum Leben erweckt werden
  •       3 Packungen Oreos
  •       2 Packungen von Cristina’s Bananenchips
  •       2 Packungen Sesamkekse, die Cristina entdeckt hatte
  •       2 Packungen von Max’ chinesischen Madeleines
  •       6 kleine Bier
  •       3l Trinkwasser

Alle waren auf ihre Art zufrieden und es wurde (bis auf eine Oreopackung) alles restlos vertilgt.

Sodann macht man sich auf den Weg zum Bahnhof, wo eine erste Ticketkontrolle erfolgt. Man kommt gar nicht in den Bahnhof hinein, wenn man kein Ticket hat. Danach erfolgt eine Sicherheitskontrolle, die Taschen werden alle geröngt und man läuft durch einen Metalldetektor (übrigens auch beim Betreten der U-Bahnschächte). Das Ergebnis dieser „Sicherheitsprüfung“ ist aber völlig irrelevant; der Detektor jault auf wie ein amerikanisches Polizeiauto, die Security-Damen gucken trotzdem lieber chinesische Soaps auf ihren Huaweis.

Angekommen im Bahnhof, sucht der erfahrene europäische Reisende zunächst nach seinem Gleis. So wird das in China allerdings nichts: Da steht dann auf der Anzeigentafel:

K21 **à**  **6 **1   **07:55 

wobei * für ein chinesisches Schriftzeichen steht. Mittlerweile erkenne ich ein paar, mein Wortschatz umfängt vielleicht 20-30 Stück – aber das ist im Leben nicht ausreichend. Nach ein paar Zugreisen weiß ich nun, wie die Tafel zu entziffern ist: Dort findet man den Zug K21 von AàB (in diesem Fall BeijingàGuilin), der um 19:55 (ok, das ist noch einfach) von Gleis 1, Warteraum 6 abfährt.
Man muss also zum Warteraum 6 gehen, dort warten ALLE Passagiere, die auf diesen Zug möchten, wobei warten wiederum jeglichen chinesischen Aggregatszustand annehmen kann: Wach, dämmernd, schlafend, hackedicht besoffen, sitzen, stehend, hockend – ihr kennt das Spiel mittlerweile. Ca. 20 Minuten vor Abfahrt wird die gesamte Meute gemeinsam aufs Gleis gelassen.

Dies ist ein wenig bizarr – aus der lärmenden, chaotischen Umgebung des Bahnhofvorplatzes und des Warteraums (in Beijing gerne mal ca. 3000 Leute gleichzeitig) in den menschenleeren Bahnhof entlassen, einzige Wegmöglichkeiten sind Notausgänge und die Zugänge zu Gleis 1. Aus der lethargischen, muffelnden Masse werden hektische, vom schnellen Gehen fast ins Rennen wechselnde Menschen – vor allem die, die nur einen Stehplatz haben und sich noch eine Chance auf einen Sitzplatz ausrechnen. Hernach folgt der Kampf um Platz in den Gepäckfächern, der „Einzug“ in die Schlafquartiere  - und dann beginnt auch schon das Verkaufstheater.



Immer lustig, immer was los!


Gemütlicher Bummelzug von Süd- nach Nordchina
27 Stunden, 2200km, ein Buch, einige Schachspiele (erschwert durch erzwungene Komplettverdunkelung um 22:00 Uhr Punkt), ein Panzertransport (siehe dieses Photo von Max http://instagram.com/p/t4SE2hEi3P/?modal=true ), viele Unterhaltungen mit den chinesischen Mitpassagieren sowie einer Menge Essens später kommen wir in Peking an.

Schon bei der Einfahrt schwant uns Böses, aber wir hoffen noch auf einfach dicken Nebel, der sich wie eine milchgläserne Kugel um die Straßenlampen gelegt hat. Pech gehabt sagt der Blick auf die Smogmessung, wir haben einen pm2,5-Wert von knapp unter 500 – den schlimmsten Wert seit 6 Monaten.



„Willkommen zurück!“ auf pekinesisch.




Sonntag, 12. Oktober 2014

Reisterrassen im Nebel

Es ist der 1. Oktober 2014 Mittags.

Wir sind nach 27 Stunden Fahrt dem Zug entstiegen und freuen uns über das sagenhafte Klima in Guilin: 28°C, feinster Sonnenschein, kein Smog. Mit uns scheint halb China nach Guilin zu wollen, der Bahnhofsvorplatz ist jedenfalls gerammelt voll von Schleppern, Touris, Bussen, Fruchtständen, Taxis, umherflitzenden Mofas und Street-food-Ständen.

Von überall kommen die Rufe: "Hello, Yangshuo, hello?!" Nein, wir möchten nach Ping'an in den Norden, einem kleinen Dörfchen in einem Nationalpark, das komplett unter Ensembleschutz steht und von den Angehörigen der Yao-Minderheit bewohnt wird. Nach ein bisschen Verhandlung (wir wurden stümperhaft abgezogen und haben viel zu viel bezahlt) steigen wir in einer versteckt liegenden Gasse in einen Bus, rasen zunächst durch Guilin um nach ca. 2 Stunden in den Nationalpark zu gelangen. Hier müht sich der etwas lungenschwache Bus die Serpentinen hinauf, bis wir auf ca. 900m am Tor von Ping'an anlangen. Da man in das Dorf nicht hineinfahren darf, werden wir hier freundlich verabschiedet, schultern unsere Rucksäcke und marschieren bergan. Das Dorf ist wirklich klein, keine 1000 Menschen leben hier, davon sind sicherlich 70% für den Tourismus eingespannt. Der Rest sind traditionelle Ackerbauern, die die am steilen Hang liegenden Reisterassen, für die die Gegend berühmt ist, bewirtschaften.
Fahrt nach Ping'an

Während der Fokus auf den Tourismus an jeder Ecke evident ist - das Dorf platzt an kleinen Souvenirläden, Supermärktchen, Restaurants und Hostels - ist es trotz allem gelungen, durch die vorsichtige Gestaltung dieser Etablissements den Charme des kleinen Dorfes zu erhalten und die traditionellen Ackerbauern nicht komplett an die Wand zu drücken. Das Gelände macht eine maschinelle Bewirtschaftung unmöglich, so dass eine gute Menge Viehzeug im Dorf ist, vornehmlich Mulis und Esel für den Lastenverkehr sowie Wasserbüffel für die Bearbeitung der Reisfelder. Nebenbei staksen haufenweise Hühner umher, die abends über dem offenen Feuer zu einem absolut köstlichen, für die Region typischen Grillhändel zubereitet werden.

Grillhändel am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen
Anderntags hatten wir uns vorgenommen, recht früh aufzubrechen und eine Wanderung zu unternehmen. Das Frühstück bestand echt Chinesisch aus einer Nudelsuppe, so dass wir gut gestärkt den Tag in Angriff nehmen konnten. Es schüttete, aber das sollte uns nicht abhalten: die resultierenden tief hängenden Wolken, die über die Berge zogen, verhalfen der Gegend nur noch zu mehr Charme, als sie sowieso schon hat.

Die Tourbus-Tagestouristen vermeidend machten wir uns auf den Weg über einen Hügel und waren (da dies ja körperliche Anstrengung bedeutet, dem chinesischen Touristen ein unerträgliches Graus) bald völlig alleine. Der Pfad schlängelte sich an einem malerischen Gewässer vorbei, durch einen Wald und bald in neue Reisterassen zu einem weiteren Dorf - viel weniger touristisch und sehr viel mehr bäuerlich. Komplett ohne andere Touristen streiften wir zwischen den Holzhäusern hindurch, bis wir eine Frau fragten, ob sie ein wenig gebratenen Reis mit Ei für mich und etwas Kaffe(-ersatz) für Max hätte. Hatte sie, und wir waren die nächste Attraktion für die jüngere Generation, deren Fußballspiel nun durch Begaffen der komischen Typen ersetzt worden war. Der Reis war von den umliegenden Feldern und schmeckte merkbar anders als das Industrieprodukt, dass in Peking gekocht wird.

See am Weg

Durch Reisterassen einen schmalen Weg entlang zum nächsten Dorf - immer den zwei Yao-Damen hinterher

Im Dorf, ganz hinten ist Mittagspause

Reisbauer am Weg


Der Nebel schluckte alle Geräusche und die Stimmung, als er sich dann ein wenig hob und nur noch einzelne Fetzen langsam über die Landschaft zogen, war einzigartig - fast verwunschen. Auf dem Rückweg war der Blick über das Dorf in das Tal hinein überwältigend.
Ping'an in den Reisterrassen

Reisterrassen auf dem Weg

Zurück im Hostel genossen wir ein ordentliches Abendessen: Neben im Ganzen frittierten, kleinen Flussfischen aus der Gegend, die inklusive Kopf, Flosse und Gräten vertilgt werden gab es auch den sogenannten Bambusreis: Reis wird mit Kürbis und anderem Gemüse in ein Bambusrohr von ca. 10cm Innendurchmesser gestopft und dann einige Zeit über dem Feuer erhitzt. Oben wird als Stöpsel das Ende eines Maiskolbens hineingetrieben. Das Resultat ist ein klebriges, leicht süßliches Reisgericht - Max war kein Fan, ich fand's super.


Abendessen


In der Austauschbibliothek des Hostels fand ich die gesammelten Bände von Sherlock Holmes, so dass der Abend gerettet war - dazu noch ein Bierchen auf der Terrasse, die Wolken klarten auf und das Leben war durchaus erträglich.

Am nächsten Tag stand die Zwischenetappe nach Guilin im Vordergrund bevor wir weiter zu den Karstbergen in Yangshuo fahren wollten. An normalen Tagen ist dies eine Angelegenheit von maximal 2 Stunden, wie wir auf der Hinreise bemerkt hatten. Wir benötigten 5 Stunden, da mehrere Unfälle auf den engen Bergstraßen sowie die goldene Woche dazu führten, dass China im Chaos versank - wenigstens dieser Teil. Dafür waren die Mädels an der Hotelrezeption in Guilin ("Wada Hostels" in Guilin und Yangshuo - absolut empfehlenswert!) goldig und wir kamen gerade rechtzeitig zum köstlichen chinesischen Barbeque-Buffet, das jeden Freitag im Hostel stattfindet.

Ach ja: Cristina aus Alicante hatte sich vor zwei Tagen angemeldet, mit unseren Details Züge und Hostels gebucht und stieß für den Rest der Reise dazu, so dass wir von nun an zu dritt unterwegs waren.

Mittwoch, 1. Oktober 2014

2200km, 160 Menschen, 27 Stunden

Am 30.09. wachten Max und ich relativ gemütlich auf. Unsere Rucksäcke hatten wir am Abend vorher gepackt und ausgemacht, gegen acht Uhr das Dormitory zu verlassen; das würde uns 2h Zeit und viel Puffer geben um den Zug zu erreichen. Vorher noch gemütlich gefrühstück stapften wir frohen Mutes los, ein riesiges Picknick hatten wir eingepackt. Leider stapften wir zunächst in die falsche Richtung, dann machte meine Kreditkarte Probleme am Automaten, meine U-Bahn-Karte beim Einstieg in die U-Bahn die wir in die falsche Richtung genommen hatten und dann eine Haltestelle zu weit fuhren. Endlich am Bahnhof angekommen verwechselten wir die Schriftzeichen für "Ticketschalter" mit denen für "Bahnhofshalle" und rannten was das Zeug hält, um unseren Zug noch zu erwischen. Grad eingestiegen schlossen sich die Türen und wir fuhren ab. Zwei "Hard Seater" in einem Wagon der uns ins 2200km entfernte Guilin in Südchina bringen sollte, waren unser Domizil für die nächsten 27 Stunden. So billig werde ich nie wieder in meinem Leben eine solch lange Distanz zurücklegen: Wir bezahlten keine 30€ für die reservierten Sitzplätze. Aber sie waren hart, und sie waren unbequem und das was sich in den nächsten Stunden in unserer unmittelbaren Umgebung abspielen sollte, war extrem intensiv.

1 Wagon, 2 Sitzplätze, 27 Stunden, 160 Menschen, 2200 km Strecke - Max und ich mittendrin

Es gibt Chinesen in allen Formen, Farben, Größen und Gerüchen. Geschlafen wird überall und in jeder möglichen Körperlage - auf dem Boden, auf dem Gang, aufeinander, auf der Toilette, auf der Gepäckablage (2 Kinder hatten es sich dort gemütlich gemacht), stehend, sitzend, hockend, liegend. Gerotzt und gespuckt wurde viel, generell nur auf den Boden, Müll gab es in ähnlich vielen Formen, Farben, Größen und Gerüchen wie die Chinesen die ihn in unglaublichen Mengen produzieren. Zur Entsorgung werden Bleche auf jedem Tisch zur Verfügung gestellt, die aber natürlich hoffnungslos überfordert sind, so dass eh wieder alles auf dem Boden landet. Eine zu bemitleidende Reinigungskraft fegt einmal pro Stunde durch den Wagon durch, einmal alle zwei Stunden wird nass gewischt alias der Dreck gleichmäßig verteilt.

Nötig isses!!
Wenn einem trotz all dieser Sinnesüberflutung langweilig werden sollte, werden in regelmäßigen Abständen allerlei Souvenire, Hausrat und Elektronik zum Verkauf angeboten. Alle hören es sich hochinteressiert an, aber nie kauft jemand etwas.

Turbosaugfähiges Küchentuch gefällig? (Inkl. Demonstration)
Die ganze Nacht brennt Licht und chinesische Popmusik läuft über die Wagonlautsprecher. Man bekommt von allen zu essen angeboten, diskutiert vor allem über "Hi Te Ler" und "Ef Ce Bai'an Mu Ni He" - der chinesische Durchschnitt sitzt hier und man lernt ihn in 27 Stunden sehr gut kennen, in jeder intimen Einzelheit: Eine 8-köpfige Großfamilie inkl. 3-jährigem Enkel, der mit Schlitzhose (klever konstruierter Windelersatz: großer Hosenschlitz im Schritt in Kombination mit fehlender Unterhose - der Nachwuchs muss sich nur hinhocken und "laufenlassen") oben in der Gepäckablage schlief (fand ich ob der fehlenden Windel dann doch gewagt), war auf dem Weg die Verwandtschaft in Guilin zu besuchen; Studenten fuhren über die Feiertage nach Hause; Geschäftsmänner hatten ihren Highspeed-Zug verpasst und fluchten nun darüber, mit der Holzklasse des Bummelzugs Vorlieb nehmen zu müssen.

Besagter Businessmann namens Chunwen riet uns, das soeben angepriesene hypersaugfähige Küchenhandtuch aus sicher echtem Hirschleder nicht zu kaufen (weder bei Max noch bei mir bestand Gefahr), und so kamen wir ins Gespräch. Da es Mittagszeit war, gingen wir in den Speisewagen, wo Chunwen uns einlud und wir bekamen bald mit, dass der Gute kein besonders ausgeprägter Fan der hiesigen Regierung ist: "You know-" Blick rechts, Blick links - "I don't like government." Wie aufregend! Ein Dissident, mit hehren Motiven der Demokratie verschrieben und mit dem Ziel, das Volk als einzigen Souverän einzusetzen!
So dachte ich jedenfalls, und stellte ein paar vorsichtige, unverfängliche Fragen, die man einschlägig beantworten kann, auf die aber auch Smalltalk folgen darf, ohne dass die Atmosphäre komisch wird. Nein, eindeutig war die Skepsis dem Regime gegenüber durchzuhören.

Was sind denn die Probleme? Keine Meinungsfreiheit, keine freien Wahlen oder hohe Korruption, das sind die Antworten, die ich so erwarte. Ne, die Importsteuern wären zu hoch - er könne sich das neue iPhone nicht leisten. Frechheit, wo es doch von Fu He Ken (Foxconn) wenig südlich von Beijing produziert wird! Ach ja, die Korruption und die erzwungene Regimezustimmung seien auch suboptimal. Aber nochmal: Vor allem die Steuern! Abartig!
Völlig desillusioniert merke ich, dass die Chinesen mit genügend Essen im Bauch und Smartphone in der Hand ihr Hirn sehr gut betäuben können.
Glasklar und unmissverständlich wurde aber auch, dass Geschäfte in China gegen den Willen der Partei und ohne entsprechendes Guang Chi, also Verbindungen, unmöglich sind - aber kein Stress, sowohl Guang Chi als auch die Zustimmung der Partei sind, wie in allen kapitalistischen Systemen, gegen genügend Kohle frei verkäuflich. Dies wirft ein interessantes Licht auf die Einhaltung der ach so hoch gehaltenen Complianceregelungen aller in China investierten Unternehmen, ausländisch wie chinesisch.

Buchhaltung made in China in einem kleinen Kiosk "+4" für ein Eis, "+6" für eine Cola
Das krasse Gegenteil konsumbetäubter Chinesen ist unsere taiwanesische Kommilitonin Baibai, die seit ihrer Ankunft kritisch auf Facebook postet, mit Professoren und Festlandschinesen über die Vorzüge echter Freiheit debattiert und bei ihrem einwöchigen Ausflug nach Nordkorea ihren asiatischen Phänotyp genutzt hat, um, als Nordkoreanerin verkleidet (graue Klamotten, kein Schmuck, kein Make-up, keine amerikanischen Sneaker) nachts aus ihrem Hotel auszubüchsen und unbewacht durch die Straßen Pyöngyangs zu wandern. Jeder zieht die Grenzen zwischen Zivilcourage und an Dummheit grenzendem Leichtsinn anders - ich war jedenfalls froh, als sie wohlbehalten wieder im Dormitory auf dem Campus eintraf.

Schon war's dunkel, Fertignudelgeschlürfe und anschließende geräuschvolle Bronchienreinigung allüberall.

Ein einzelner Chinese mit Stehplatz, der sich durch geschickte Übernahme verschiedener kurzfristig freigewordener Sitzplätze ausgezeichnet hatte und dessen Zähne meiner Münchner Zahnärztin einen unverhofften Jahresbonus verschafft hätten, entschloss sich zu einer anderen Form des Abendessens: 2 grobe Würste und ein halber Liter bester Reisschnapps führten zu baldiger bester Laune und extremer Kontaktfreude (Max sei der perfekte Deutsche, ich zu schlitzäugig) sowie, eine dreiviertel Stunde später, zu extremer Müdigkeit. Doof, das der rechtmäßige Sitzinhaber zurückkam und die Schnapsdrossel das Nest verlassen musste.
Wurst, Schnaps, was braucht man mehr? Äh, eine Zahnbürste vielleicht
Um mich herum pennt alles. Ich lese eine Biographie sechs nordkoreanischer Flüchtlinge (exzellent übrigens: Barbara Demick, Nothing To Envy) bis ca. 1 Uhr nachts, dann schlafe ich auch.

Als ich aufwache und meine Schlafmaske hochschiebe, ist es neun Uhr morgens, die Sonne scheint hell durch die Fenster, in drei Stunden sind wir da und die Landschaft hat sich vom flachen Nordland zu bergigem, feuchteren südlichen China gewandelt. Der Zug arbeitet sich durch Reisterassen, über Flussbrücken und an Hügeln vorbei bis wir nach 27 Stunden endlich, endlich in Guilin ankommen - die Woche kann kommen!

ENDLICH DA!