Mittwoch, 1. Oktober 2014

2200km, 160 Menschen, 27 Stunden

Am 30.09. wachten Max und ich relativ gemütlich auf. Unsere Rucksäcke hatten wir am Abend vorher gepackt und ausgemacht, gegen acht Uhr das Dormitory zu verlassen; das würde uns 2h Zeit und viel Puffer geben um den Zug zu erreichen. Vorher noch gemütlich gefrühstück stapften wir frohen Mutes los, ein riesiges Picknick hatten wir eingepackt. Leider stapften wir zunächst in die falsche Richtung, dann machte meine Kreditkarte Probleme am Automaten, meine U-Bahn-Karte beim Einstieg in die U-Bahn die wir in die falsche Richtung genommen hatten und dann eine Haltestelle zu weit fuhren. Endlich am Bahnhof angekommen verwechselten wir die Schriftzeichen für "Ticketschalter" mit denen für "Bahnhofshalle" und rannten was das Zeug hält, um unseren Zug noch zu erwischen. Grad eingestiegen schlossen sich die Türen und wir fuhren ab. Zwei "Hard Seater" in einem Wagon der uns ins 2200km entfernte Guilin in Südchina bringen sollte, waren unser Domizil für die nächsten 27 Stunden. So billig werde ich nie wieder in meinem Leben eine solch lange Distanz zurücklegen: Wir bezahlten keine 30€ für die reservierten Sitzplätze. Aber sie waren hart, und sie waren unbequem und das was sich in den nächsten Stunden in unserer unmittelbaren Umgebung abspielen sollte, war extrem intensiv.

1 Wagon, 2 Sitzplätze, 27 Stunden, 160 Menschen, 2200 km Strecke - Max und ich mittendrin

Es gibt Chinesen in allen Formen, Farben, Größen und Gerüchen. Geschlafen wird überall und in jeder möglichen Körperlage - auf dem Boden, auf dem Gang, aufeinander, auf der Toilette, auf der Gepäckablage (2 Kinder hatten es sich dort gemütlich gemacht), stehend, sitzend, hockend, liegend. Gerotzt und gespuckt wurde viel, generell nur auf den Boden, Müll gab es in ähnlich vielen Formen, Farben, Größen und Gerüchen wie die Chinesen die ihn in unglaublichen Mengen produzieren. Zur Entsorgung werden Bleche auf jedem Tisch zur Verfügung gestellt, die aber natürlich hoffnungslos überfordert sind, so dass eh wieder alles auf dem Boden landet. Eine zu bemitleidende Reinigungskraft fegt einmal pro Stunde durch den Wagon durch, einmal alle zwei Stunden wird nass gewischt alias der Dreck gleichmäßig verteilt.

Nötig isses!!
Wenn einem trotz all dieser Sinnesüberflutung langweilig werden sollte, werden in regelmäßigen Abständen allerlei Souvenire, Hausrat und Elektronik zum Verkauf angeboten. Alle hören es sich hochinteressiert an, aber nie kauft jemand etwas.

Turbosaugfähiges Küchentuch gefällig? (Inkl. Demonstration)
Die ganze Nacht brennt Licht und chinesische Popmusik läuft über die Wagonlautsprecher. Man bekommt von allen zu essen angeboten, diskutiert vor allem über "Hi Te Ler" und "Ef Ce Bai'an Mu Ni He" - der chinesische Durchschnitt sitzt hier und man lernt ihn in 27 Stunden sehr gut kennen, in jeder intimen Einzelheit: Eine 8-köpfige Großfamilie inkl. 3-jährigem Enkel, der mit Schlitzhose (klever konstruierter Windelersatz: großer Hosenschlitz im Schritt in Kombination mit fehlender Unterhose - der Nachwuchs muss sich nur hinhocken und "laufenlassen") oben in der Gepäckablage schlief (fand ich ob der fehlenden Windel dann doch gewagt), war auf dem Weg die Verwandtschaft in Guilin zu besuchen; Studenten fuhren über die Feiertage nach Hause; Geschäftsmänner hatten ihren Highspeed-Zug verpasst und fluchten nun darüber, mit der Holzklasse des Bummelzugs Vorlieb nehmen zu müssen.

Besagter Businessmann namens Chunwen riet uns, das soeben angepriesene hypersaugfähige Küchenhandtuch aus sicher echtem Hirschleder nicht zu kaufen (weder bei Max noch bei mir bestand Gefahr), und so kamen wir ins Gespräch. Da es Mittagszeit war, gingen wir in den Speisewagen, wo Chunwen uns einlud und wir bekamen bald mit, dass der Gute kein besonders ausgeprägter Fan der hiesigen Regierung ist: "You know-" Blick rechts, Blick links - "I don't like government." Wie aufregend! Ein Dissident, mit hehren Motiven der Demokratie verschrieben und mit dem Ziel, das Volk als einzigen Souverän einzusetzen!
So dachte ich jedenfalls, und stellte ein paar vorsichtige, unverfängliche Fragen, die man einschlägig beantworten kann, auf die aber auch Smalltalk folgen darf, ohne dass die Atmosphäre komisch wird. Nein, eindeutig war die Skepsis dem Regime gegenüber durchzuhören.

Was sind denn die Probleme? Keine Meinungsfreiheit, keine freien Wahlen oder hohe Korruption, das sind die Antworten, die ich so erwarte. Ne, die Importsteuern wären zu hoch - er könne sich das neue iPhone nicht leisten. Frechheit, wo es doch von Fu He Ken (Foxconn) wenig südlich von Beijing produziert wird! Ach ja, die Korruption und die erzwungene Regimezustimmung seien auch suboptimal. Aber nochmal: Vor allem die Steuern! Abartig!
Völlig desillusioniert merke ich, dass die Chinesen mit genügend Essen im Bauch und Smartphone in der Hand ihr Hirn sehr gut betäuben können.
Glasklar und unmissverständlich wurde aber auch, dass Geschäfte in China gegen den Willen der Partei und ohne entsprechendes Guang Chi, also Verbindungen, unmöglich sind - aber kein Stress, sowohl Guang Chi als auch die Zustimmung der Partei sind, wie in allen kapitalistischen Systemen, gegen genügend Kohle frei verkäuflich. Dies wirft ein interessantes Licht auf die Einhaltung der ach so hoch gehaltenen Complianceregelungen aller in China investierten Unternehmen, ausländisch wie chinesisch.

Buchhaltung made in China in einem kleinen Kiosk "+4" für ein Eis, "+6" für eine Cola
Das krasse Gegenteil konsumbetäubter Chinesen ist unsere taiwanesische Kommilitonin Baibai, die seit ihrer Ankunft kritisch auf Facebook postet, mit Professoren und Festlandschinesen über die Vorzüge echter Freiheit debattiert und bei ihrem einwöchigen Ausflug nach Nordkorea ihren asiatischen Phänotyp genutzt hat, um, als Nordkoreanerin verkleidet (graue Klamotten, kein Schmuck, kein Make-up, keine amerikanischen Sneaker) nachts aus ihrem Hotel auszubüchsen und unbewacht durch die Straßen Pyöngyangs zu wandern. Jeder zieht die Grenzen zwischen Zivilcourage und an Dummheit grenzendem Leichtsinn anders - ich war jedenfalls froh, als sie wohlbehalten wieder im Dormitory auf dem Campus eintraf.

Schon war's dunkel, Fertignudelgeschlürfe und anschließende geräuschvolle Bronchienreinigung allüberall.

Ein einzelner Chinese mit Stehplatz, der sich durch geschickte Übernahme verschiedener kurzfristig freigewordener Sitzplätze ausgezeichnet hatte und dessen Zähne meiner Münchner Zahnärztin einen unverhofften Jahresbonus verschafft hätten, entschloss sich zu einer anderen Form des Abendessens: 2 grobe Würste und ein halber Liter bester Reisschnapps führten zu baldiger bester Laune und extremer Kontaktfreude (Max sei der perfekte Deutsche, ich zu schlitzäugig) sowie, eine dreiviertel Stunde später, zu extremer Müdigkeit. Doof, das der rechtmäßige Sitzinhaber zurückkam und die Schnapsdrossel das Nest verlassen musste.
Wurst, Schnaps, was braucht man mehr? Äh, eine Zahnbürste vielleicht
Um mich herum pennt alles. Ich lese eine Biographie sechs nordkoreanischer Flüchtlinge (exzellent übrigens: Barbara Demick, Nothing To Envy) bis ca. 1 Uhr nachts, dann schlafe ich auch.

Als ich aufwache und meine Schlafmaske hochschiebe, ist es neun Uhr morgens, die Sonne scheint hell durch die Fenster, in drei Stunden sind wir da und die Landschaft hat sich vom flachen Nordland zu bergigem, feuchteren südlichen China gewandelt. Der Zug arbeitet sich durch Reisterassen, über Flussbrücken und an Hügeln vorbei bis wir nach 27 Stunden endlich, endlich in Guilin ankommen - die Woche kann kommen!

ENDLICH DA!

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