Überall, wo man hier hinblickt, gibt es Bettler.
Nicht verwunderlich für ein Land, das zu den ärmsten der
Welt gehört, in dem die Analphabetenrate bis vor wenigen Jahren bei über 80%
war (lt. Regierung, also mit Vorsicht zu genießen) und in dem die
Arbeitslosigkeit in den Städten bei über 30% steht (lt. Erhebung der Central
Statistic Agency vom März 2011, ebenfalls Regierungszahlen).
Nun stellt sich mir im alltäglichen Leben hier die Frage:
Wie gehe ich damit um?
Zu diesem Zwecke habe ich mich ein wenig bei meinen
äthiopischen Bekannten umgehört, die ein besseres Verständnis für die hiesige
Kultur haben sollten, als ich.
Generell scheint es so zu sein, dass es weniger
organisiertes Betteln gibt, als beispielsweise in den Großstädten Indiens – die
Armut, die man auf den Straßen sieht, ist häufiger „echte“ Armut und nicht nur
für größtmögliche Effekhascherei hergerichtet. Diese Fälle gibt es aber selbstverständlich
auch.
Viel verbreiteter als in anderen Kulturen (besonders unserer
in Deutschland) ist es, sich gegenseitig zu helfen. Es gibt kein soziales Netz
in das wir mitteleuropäischen Seiltänzer uns gemütlich fallen lassen können,
wenn uns das Schicksal hinterlistig das Seil durchschneidet. Auch gibt es nur
wenig Rechtssicherheit (was ich übrigens auch in meiner Arbeit merke).
Das Prinzip ist also, wenn jemandem aus meiner Familie etwas
fehlt, oder es ihm nicht gut geht, helfe ich ihm. Dies führt häufig dazu, dass
niemand so wirklich zu Geld kommt, weil ständig der Neffe irgendeines Schwager
einer Cousine in Problemen steckt, dem geholfen werden muss. Das Wort „Cousine“
sei hierbei mit Vorsicht zu genießen. Zur Cousinage gehört jeder, der eine
einigermaßen enge Beziehung zur Familie pflegt. Klare Sache, nach einem Monat
gehört man noch nicht dazu, aber sobald man einige Zeit hier lebt und seine
Kontakte pflegt, wird man in den Status erhoben. Die Verantwortung die das für
vermögende Familienmitglieder bedeutet, ist immens.
Dieses Helfersyndrom, im positiven Sinne des Wortes, zeigt
sich aber auch auf der Straße. Mehrmals habe ich es schon morgens auf meinem
Weg nach Selam beobachtet, wie Bettlern und Straßenkindern von Passanten eigens
dafür gekauftes Brot, Zucker oder Kekse zugesteckt wurden. Wohlgemerkt, die
Passanten verdienen als Vollzeitarbeitskräfte selber meistens weniger als 1200
Birr im Monat, noch nicht mal 60€ - auch wenn man so nicht rechnen darf, da man
für diesen Betrag hier natürlich ganz andere Sachen kaufen kann.
Meine nächste Frage war sodann, wem geholfen wird. Das finde
ich als Ferenji gar nicht so einfach
zu beantworten: Abgerissen sehen die meisten aus (Ausnahmen beschreibe ich
gleich), einige zeigen ihre gut gehegten körperlichen Leiden so, dass man sie
nicht übersehen kann, andere sind gerade mal 4 Jahre alt und rennen einem
teilweise über eine halbe Stunde hinterher, wieder andere versuchen mich mit
bewundernswerter Hartnäckigkeit von dem Kauf eines Bananenkaugummis zu
überzeugen, den ich probiert habe und nicht noch einmal probieren möchte oder
bieten mir an, meine Schuhe zu putzen – ein Relikt, habe ich gelernt, aus den 6
Jahren italienischer Besatzung, denen Äthiopien übrigens auch seine Affinität
zu Pasta, Pizza und Espresso zu verdanken hat. Zitat: „Klar kommt das von den
Italienern. Überleg doch mal, das ist ein Volk, dass sich häufiger die Schuhe
polieren lässt als es die Unterhose wechselt!“ Italiener bin ich, wie sich da
spätestens herausstellte, sicher nicht.
Nun, die von mir Befragten hatten allerlei Antworten:
Die einen geben generell kein Geld an Bettler aufgrund der
Undurchschaubarkeit der Bettelmafia – das ist aber die absolute Minderheit.
Andere geben generell kein Geld an Bettler, die männlich,
gesund und kräftig aussehen – wer in diesem Zustand bettelt, ist nur zu faul
sich als Träger, Guard, Schuhputzer oder gefälschte-Software-Verkäufer zu
betätigen.
Wieder andere geben am liebsten Geld an solche, die eine
kleine Arbeit verrichten für ihr Einkommen. Paradebeispiel sind hier die Schuhputzer,
die meistens in langen Reihen am Straßenrand sitzen, jeder seine Ausrüstung
(immer dieselbe: zwei Bürsten, ein Schwamm, eine Flasche, Schuhcreme in
verschiedenen Ausführungen und Transportkiste zum Schuhabstellen) vor sich und
auf Kundschaft wartend. Diese Jungs, im Alter zwischen 8 und 20 Jahren, putzen
einem mit Hingabe und viel Sachverstand die Schuhe, was in etwa 10 Minuten
dauert. Dafür verlangen sie zwischen 1 und 3 Birr (je nachdem wie Ferenji du erscheinst), also zwischen 5
und 15 Cent.
Einer meiner Bekannten sagte mir also, dass er solchen
„informell Beschäftigten“ am liebsten Geld gibt, und dann auch gern das 5 – 10
fache dessen, was sie verlangt haben, da sie sich um Einkommen bemühen und
bereit sind, dafür eine Leistung zu geben. Weitere Beispiele sind Geldwechsler,
Klopapier- (verkaufen Klopapier portionsweise) Mobilfunkguthaben- oder
Kaugummiverkäufer.
Einer aber stach heraus: Amanuel, Beth (eine äthiopische
Australierin) und ich waren unterwegs als uns ein Bettler entgegen kam. Wie es
Brauch ist, sagten wir etwas, was sich wie „egsirsteren“ anhört – Amharisch für
„möge Gott Dir gnädig sein“. Wir dachten
uns nichts und gingen weiter, da kam er an unser Auto – nichts ungewöhnliches
an sich. Ungewöhnlich war, dass er wirklich anständig angezogen war: Jackett,
Hemd, ordentliche Schuhe und eine saubere Hose. Jemand, der eher in eine
Zeitungsredaktion als auf die Straße gehört.
Amu bemerkte dies, gab ihm 50 Birr und der Mann fing an zu
weinen, während er davonstolperte. Kein betrunkenes Stolpern, eher so, als fühle
er seine Füße nicht. Der arme Mann zitterte am ganzen Leib und wurde auf seinem
Weg über die Straße fast überfahren.
Es stellte sich heraus, dass der Mann Chauffeur für das Büro
einer bilateralen Development Agency (bspw. die deutsche GIZ oder die Austrian
Development Agency) war, bis er Parkinson bekam. Ihm wurde gekündigt und nun
steht der Mensch auf der Straße um die Miete seines Hauses zusammenzubetteln,
damit seine Kinder, die alle noch in die Schule gehen, ein Dach über dem Kopf haben.
Sowas kann einem natürlich viel erzählt werden. Um
herauszufinden, ob dies wirklich so sei, rief Amanuel seinen Cousin an, der in
derselben Gegend wohnt. Dieser ging zur Bezirksverwaltung („kebele“, ich
berichtete) und stellte Erkundigungen an – und tatsächlich, die Geschichte
stimmte so 1:1.
Daraufhin rief Amu seine Freunde zusammen und veranstaltete
einen kleinen Fundraising Event: Premier League schauen am Wochenende, es
sollte ja auch Spaß machen. Wir haben dort genügend Geld gesammelt, dass der
Mann seine Lebenshaltungskosten bezahlen kann, bis er in ein paar Monaten ein „Condominium“
vom Kebele zugewiesen bekommt, eine Art Sozialwohnung, die er sich dann
selbstständig leisten kann.
Man muss ein Auge für solche Fälle haben – mir fällt
das noch sehr schwer.