Samstag, 24. März 2012

Armut


Überall, wo man hier hinblickt, gibt es Bettler.

Nicht verwunderlich für ein Land, das zu den ärmsten der Welt gehört, in dem die Analphabetenrate bis vor wenigen Jahren bei über 80% war (lt. Regierung, also mit Vorsicht zu genießen) und in dem die Arbeitslosigkeit in den Städten bei über 30% steht (lt. Erhebung der Central Statistic Agency vom März 2011, ebenfalls Regierungszahlen).

Nun stellt sich mir im alltäglichen Leben hier die Frage: Wie gehe ich damit um?

Zu diesem Zwecke habe ich mich ein wenig bei meinen äthiopischen Bekannten umgehört, die ein besseres Verständnis für die hiesige Kultur haben sollten, als ich.

Generell scheint es so zu sein, dass es weniger organisiertes Betteln gibt, als beispielsweise in den Großstädten Indiens – die Armut, die man auf den Straßen sieht, ist häufiger „echte“ Armut und nicht nur für größtmögliche Effekhascherei hergerichtet. Diese Fälle gibt es aber selbstverständlich auch.

Viel verbreiteter als in anderen Kulturen (besonders unserer in Deutschland) ist es, sich gegenseitig zu helfen. Es gibt kein soziales Netz in das wir mitteleuropäischen Seiltänzer uns gemütlich fallen lassen können, wenn uns das Schicksal hinterlistig das Seil durchschneidet. Auch gibt es nur wenig Rechtssicherheit (was ich übrigens auch in meiner Arbeit merke).
Das Prinzip ist also, wenn jemandem aus meiner Familie etwas fehlt, oder es ihm nicht gut geht, helfe ich ihm. Dies führt häufig dazu, dass niemand so wirklich zu Geld kommt, weil ständig der Neffe irgendeines Schwager einer Cousine in Problemen steckt, dem geholfen werden muss. Das Wort „Cousine“ sei hierbei mit Vorsicht zu genießen. Zur Cousinage gehört jeder, der eine einigermaßen enge Beziehung zur Familie pflegt. Klare Sache, nach einem Monat gehört man noch nicht dazu, aber sobald man einige Zeit hier lebt und seine Kontakte pflegt, wird man in den Status erhoben. Die Verantwortung die das für vermögende Familienmitglieder bedeutet, ist immens.

Dieses Helfersyndrom, im positiven Sinne des Wortes, zeigt sich aber auch auf der Straße. Mehrmals habe ich es schon morgens auf meinem Weg nach Selam beobachtet, wie Bettlern und Straßenkindern von Passanten eigens dafür gekauftes Brot, Zucker oder Kekse zugesteckt wurden. Wohlgemerkt, die Passanten verdienen als Vollzeitarbeitskräfte selber meistens weniger als 1200 Birr im Monat, noch nicht mal 60€ - auch wenn man so nicht rechnen darf, da man für diesen Betrag hier natürlich ganz andere Sachen kaufen kann.

Meine nächste Frage war sodann, wem geholfen wird. Das finde ich als Ferenji gar nicht so einfach zu beantworten: Abgerissen sehen die meisten aus (Ausnahmen beschreibe ich gleich), einige zeigen ihre gut gehegten körperlichen Leiden so, dass man sie nicht übersehen kann, andere sind gerade mal 4 Jahre alt und rennen einem teilweise über eine halbe Stunde hinterher, wieder andere versuchen mich mit bewundernswerter Hartnäckigkeit von dem Kauf eines Bananenkaugummis zu überzeugen, den ich probiert habe und nicht noch einmal probieren möchte oder bieten mir an, meine Schuhe zu putzen – ein Relikt, habe ich gelernt, aus den 6 Jahren italienischer Besatzung, denen Äthiopien übrigens auch seine Affinität zu Pasta, Pizza und Espresso zu verdanken hat. Zitat: „Klar kommt das von den Italienern. Überleg doch mal, das ist ein Volk, dass sich häufiger die Schuhe polieren lässt als es die Unterhose wechselt!“ Italiener bin ich, wie sich da spätestens herausstellte, sicher nicht.

Nun, die von mir Befragten hatten allerlei Antworten:
Die einen geben generell kein Geld an Bettler aufgrund der Undurchschaubarkeit der Bettelmafia – das ist aber die absolute Minderheit.
Andere geben generell kein Geld an Bettler, die männlich, gesund und kräftig aussehen – wer in diesem Zustand bettelt, ist nur zu faul sich als Träger, Guard, Schuhputzer oder gefälschte-Software-Verkäufer zu betätigen.
Wieder andere geben am liebsten Geld an solche, die eine kleine Arbeit verrichten für ihr Einkommen. Paradebeispiel sind hier die Schuhputzer, die meistens in langen Reihen am Straßenrand sitzen, jeder seine Ausrüstung (immer dieselbe: zwei Bürsten, ein Schwamm, eine Flasche, Schuhcreme in verschiedenen Ausführungen und Transportkiste zum Schuhabstellen) vor sich und auf Kundschaft wartend. Diese Jungs, im Alter zwischen 8 und 20 Jahren, putzen einem mit Hingabe und viel Sachverstand die Schuhe, was in etwa 10 Minuten dauert. Dafür verlangen sie zwischen 1 und 3 Birr (je nachdem wie Ferenji du erscheinst), also zwischen 5 und 15 Cent.
Einer meiner Bekannten sagte mir also, dass er solchen „informell Beschäftigten“ am liebsten Geld gibt, und dann auch gern das 5 – 10 fache dessen, was sie verlangt haben, da sie sich um Einkommen bemühen und bereit sind, dafür eine Leistung zu geben. Weitere Beispiele sind Geldwechsler, Klopapier- (verkaufen Klopapier portionsweise) Mobilfunkguthaben- oder Kaugummiverkäufer.

Einer aber stach heraus: Amanuel, Beth (eine äthiopische Australierin) und ich waren unterwegs als uns ein Bettler entgegen kam. Wie es Brauch ist, sagten wir etwas, was sich wie „egsirsteren“ anhört – Amharisch für „möge Gott Dir gnädig sein“.  Wir dachten uns nichts und gingen weiter, da kam er an unser Auto – nichts ungewöhnliches an sich. Ungewöhnlich war, dass er wirklich anständig angezogen war: Jackett, Hemd, ordentliche Schuhe und eine saubere Hose. Jemand, der eher in eine Zeitungsredaktion als auf die Straße gehört.
Amu bemerkte dies, gab ihm 50 Birr und der Mann fing an zu weinen, während er davonstolperte. Kein betrunkenes Stolpern, eher so, als fühle er seine Füße nicht. Der arme Mann zitterte am ganzen Leib und wurde auf seinem Weg über die Straße fast überfahren.
Es stellte sich heraus, dass der Mann Chauffeur für das Büro einer bilateralen Development Agency (bspw. die deutsche GIZ oder die Austrian Development Agency) war, bis er Parkinson bekam. Ihm wurde gekündigt und nun steht der Mensch auf der Straße um die Miete seines Hauses zusammenzubetteln, damit seine Kinder, die alle noch in die Schule gehen, ein Dach über dem Kopf haben.
Sowas kann einem natürlich viel erzählt werden. Um herauszufinden, ob dies wirklich so sei, rief Amanuel seinen Cousin an, der in derselben Gegend wohnt. Dieser ging zur Bezirksverwaltung („kebele“, ich berichtete) und stellte Erkundigungen an – und tatsächlich, die Geschichte stimmte so 1:1.

Daraufhin rief Amu seine Freunde zusammen und veranstaltete einen kleinen Fundraising Event: Premier League schauen am Wochenende, es sollte ja auch Spaß machen. Wir haben dort genügend Geld gesammelt, dass der Mann seine Lebenshaltungskosten bezahlen kann, bis er in ein paar Monaten ein „Condominium“ vom Kebele zugewiesen bekommt, eine Art Sozialwohnung, die er sich dann selbstständig leisten kann.

Man muss ein Auge für solche Fälle haben – mir fällt das noch sehr schwer.   

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