Samstag, 7. April 2012

Männer, die auf Schafe starren


Heute morgen stand ich früh auf, um mit Oona zu frühstücken. Die musste nämlich um halb acht zu einer Expedition für ihre Recherche aufbrechen und da hat sie sich ein Omelett genehmigt, während ich einen Cappucino (äthiopischer Kaffee, so was gutes!) und ein französisches Toast vertilgte. Macht zusammen nämlich mehr Spaß.

Wir verfrühstückten aber nicht einfach nur irgendwelche Eierspeis (MICHI! Für dich!): Man muss dazu sagen, dass wir inmitten der fröhlichsten Blumenfarbenpracht an einem Seeufer saßen, einen unfassbaren Blick auf die aufgehende Sonne über dem Tanasee genossen und Vögel in verschiedenster Form, Farbe, harmonischer Qualität und Lautstärke über unseren Köpfen den neuen Tag besungen.
Ein großes Vogelpärchen sah durchaus neidisch herab, als ich ein wenig Zucker über mein Toast träufelte. Ich kam mir sehr ornithologisch vor.
Ein Einheimischer, den wir in Bahir Dar kennen gelernt haben, meinte zu meiner Aufregung im übertragenen Sinne: „Ja mei, sind halt Fischadler. Und jetzt?“

Gegen elf frühstückte ich dann noch einmal mit Anna, die heute Geburtstag hat – herzlichen Glückwunsch!
Es gab Schokolade und Marzipan aus der Heimat sowie den Beginn ihres Skypemarathons mit allen Verwandten und Freunden die gratulieren wollten, so dass das gemeinsame Frühstück auch relativ schnell beendet war.

Stellte aber kein Problem dar, da ich sowieso um 12 im Bus nach Gondar nördlich des Tanasees sitzen wollte. Der fährt nämlich ca. 3 Stunden, und da muss man zeitlich los, will man vor Beginn der Aktivitäten von irgendwelchen unguten Personen auf der Strecke sicher im Hotel sitzen.

Auf das Dach des Minibus wurde mein Rucksack zu dem Zeug der anderen Leute geschnallt und los ging die Fahrt.

So meine Erwartung.

Nichts vergleichbares war der Fall: Wir waren erst halb voll (8 Leute, zugelassen ist die Kiste für 11) und das geht ja auf keinen Fall. Ich saß hinten rechts direkt am Fenster und bekam so in aller Deutlichkeit die Diskussionen des Conductors mit den potentiellen aber nicht überzeugten Passagieren vorgeführt: Gepäck unter lautem Gezeter aus der Hand gerissen, unter lautem Gezeter verstaut, Passagier unter lautem Gezeter in den Minibus halb gezwungen halb gebeten, Passagier steigt unter lautem Gezeter wieder aus, versucht unter lautem Gezeter sein Gepäck zu bekommen, kein Erfolg, setzt sich unter lautem Gezeter wieder hin, steht unter lautem Gezeter wieder auf, bekommt unter lautem Gezeter sein Gepäck, verstaut es unter lautem Gezeter wieder und setzt sich hin.

Stille.

Heissahopsa, ein weiterer Passagier gefunden - fehlen nur noch 7.

So ging es eineinhalb Stunden kreuz und quer durch Bahir Dar, die 75 Birr, die ich gezahlt hatte, waren mit Sicherheit schon längst verfahren, was mir aber herzlich egal war.

Letztenendes waren wir unterwegs (schätze so gegen 2 nachmittags) und rasten in Richtung Gondar als wären uns die Eritreer auf den Fersen. Die Straße ist asphaltiert, man fährt durch kleine Eukalyptuswäldchen, rechts und links stehen Lehm- und Schlammhütten, typisch und leicht erkennbar durch ihre runde Form, man überholt Ziegen, Schafe, Pferde, Hühner und Esel (sowohl tierischer als auch menschlicher Art) sowie Fahrradfahrer, Lastwagen, andere Minibusse (zweispurige Straße, Elephantenrennen über 2 km mit ständigem Gegenverkehr) sowie Fußgänger. Das Land ist hügelig, ockerfarben und staubtrocken. Tiere weiden, ich wüsste nicht an was sie sich weiden sollten, aber sie werden beaufsichtigt durch Horden an Kindern im Grundschulalter. Ein paar ruhen sich im Schatten aus, während sich keine zehn Meter weiter zwei Stiere in der sengenden Sonne bis aufs Blut bekämpfen. Links blinkt mehrere hundert Meter unterhalb der Tanasee hervor während man sich langsam in die Hügel schraubt.

Ich fahre ins Mittelalter.

Wir fuhren durch mehrere Dörfer, bis wir in einem größeren hielten, um wieder unter lautem Gezeter neue Passagiere aufzuladen. Etwa 12 Schafe wurden, Stück für Stück, umgestoßen und ihre Beine mit Hanfstricken zusammen gebunden, sodass sich die bemitleidenswerten Viecher blökend im Staub wanden, die Beine in die Luft, die Augen angstvoll umhergeisternd.

Mein Fenster wird aufgeschoben, mir wird mein 70l Trekkingrucksack hinein gereicht, „take! Take!“. Auch einige andere Passagiere kommen in den Genuss ihres Gepäcks als zusätzlich wärmende Schicht auf dem Schoß (mir troff es den Rücken herunter und dabei saß ich am Fenster). Ich frage mich warum und sehe, wie im nächsten Augenblick Schaf für Schaf auf das Dach des Busses gehievt wird. Ich stecke meinen Kopf aus dem Fenster, schaue nach oben und blicke in sechs Schafsaugen die mich mit einem: „Ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“-Blick anschauen. Die Tiere wurden nicht etwa so hingelegt, wie man sich liegende Schafe vorstellt, sondern sie wurden verstaut wie Gepäck, was zu grotesken und mit Sicherheit schmerzhaften Körperhaltungen führt. Durch ihre gebundenen Beine können sie sich nicht bewegen.
Es ist also alles in bester Ordnung, wir können weiterfahren.

20 Meter weiter sehe ich das Werbeschild einer jungen Frau, die sich selbstständig gemacht hat: „Hagere Tsige, nutrition counselling“. Kein Scherz.

Wenn ich aus meinem Fenster in die Landschaft schaue, sehe ich ein Schafsnasenloch, in dem ein Popel im Fahrtwind flattert.

Die staubige Trockenheit hat Konsequenzen gefordert, die man zwar nicht unmittelbar sieht, aber denen mittlerweile vorgebeugt wird: Wir fahren an einem riesigen abgesperrten Areal vorbei, einem „Emergency Famine Reaction Coordination Center“ mit Bürogebäuden und großen Lagerhallen. Das scheint auch nötig zu sein, denn Wasser ist absolute Mangelware: Wann immer man einen Fluss quert (der nie, im eigentlichen Sinne, „fließt“) sieht man Scharen an Leuten, die dort ihre gelben Wasserkanister in den Pfützen füllen, um diese nach Hause zu tragen – sicherlich kilometerweit.

Währenddessen haben wir eine Ebene erreicht, die in jeglicher Hinsicht an die Deichlandschaft im Bremer Umland erinnert: Flach wie ein Pfannekuchen, durchzogen von Gräben, einzelne Bäume stehen an Wegesrändern zwischen Feldern auf denen sich Vieh am satten Grün des Grases weidet.
Es gibt zugegebenermaßen Unterschiede:
Anstatt saftig grüne Landschaft mit dunkelgrauem Himmel und nasskaltem Klima ist es ockergelb bis –rot, der Himmel stahlblau und die Hitze ist trocken. Kleinere Eukalyptusbäumchen durchziehen das Landschaftsbild, die Gräben sind restlos ausgetrocknet.
Ich fange schon an, mich ein wenig zu wundern – wir sollten doch durch die Berge fahren? Wieso sind wir jetzt in so einer platten Ebene?

Und dann wird mir bewusst, dass das, was ich eben noch für hohe Wolkentürme hielt, in Wahrheit Berge sind, die jäh aus der Ebene ausbrechen und wie eine senkrechte Wand vor der Straße aufsteigen. Man kann es sich ein wenig vorstellen wie diese berühmte Berglandschaft in China, wo Felstürme aus einer Wasserlandschaft ragen – nur wiederum mit bedeutend weniger Wasser.

Auf dem Weg in die Berge halten wir eins ums andere Mal in Dörfern, jedes Mal dasselbe Schauspiel: 10 Menschen wollen den Reisenden im Bus etwas verkaufen (20 Knollen Knoblauch, braucht noch jemand bisschen Knofi?!), 20 Menschen wollen in den Bus. Das Schauspiel, dass sich uns bietet, erinnert sehr an eine Schweinefütterung im Bauernhof: alles bleibt ruhig, bis die Tür aufgeht. Das Gezeter war, ich wiederhole mich, groß.

Ein gelber Bus von der „Luf-Tanza“ kommt uns entgegen. Ich fühle mich heimisch.

Wir fahren weiter in die Berge, eine riesige Felsnadel taucht rechts auf, hoch und alleinstehend, wirklich beeindruckend.
Die Adler kreisen majestätisch links neben dem Popel des Schafs.

Aus dem Radio tönt Timbaland mit „The Way I Are“, der grotesk aufgedrehte Bass wummert direkt neben meinem Ohr. Wir halten im nächsten Dorf, bekommen drei weitere Mitfahrer. Auch vier Hühner steig zu, eines wird auf meinem Schoß drapiert („take! Take!“). Kurze Bilanz: 20 Menschen, 13 Schafe und 3 Hühner in und auf einem Minibus, der für 12 Leute zugelassen ist. Die Karawane zieht weiter, der Sultan hat Durst...

Da fällt mir auf: ich bekomme noch 5 Birr (25 Cent) Rückgeld vom Conductor, diesem Schlitzohr! 75 Birr waren ausgemacht, ich habe 100 Birr gegeben, 20 zurückbekommen, weil der Hansel gerade keine 5 Birr zur Verfügung hatte und mich auf später vertröstete.
Die folgende Verhandlung mit 19 Mitfahrern und 3 Hühnern wären mit „multilateral“ adäquat beschrieben.

Wir halten im nächsten Dorf. Ein Bauer, eine AK-47 (vollautomatisches Sturmgewehr) locker in der Hand, steigt zu. Mein Huhn wird hysterisch und kackt wild gackernd durch meine Beine auf den Fußboden. Der Bauer muss aussteigen.

Wider Erwarten bekomme ich meine 5 Birr! Ich gebe sie dem Conductor für seine Ehrlichkeit als Trinkgeld.

Ich schaue aus dem Fenster auf die verschwindende Landschaft. Schafsköttel fliegen von oben an meinem Fenster vorbei. Ein Schaf röchelt. Mein Huhn gackert.

Keinen stört’s.

1 Stunde später, gegen 6 Uhr, bin ich endlich in meinem Hotel, habe mein Zimmer bezogen und sitze, die erste Cola schlürfend, im Garten. Ich genieße den Anblick runter auf das Reservoir von Gondar, während sich der Himmel in allen Lila-Schattierungen verfärbt...

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