Freitag, 19. September 2014

Tödlicher Tintenfisch, schnarchende Polen und schlägernde Koreaner

Da schreibt man mal zwei, drei Tage nicht, und schon passieren die verrücktesten Sachen!

Aber der Reihe nach. Der gemütliche Samstagabend bei Benno war genau perfekt geeignet um mit einer guten Mütze Schlaf am Sonntagmorgen die erste Vorlesung zu bestreiten und hochmotiviert mit voller Konzentration die fernöstliche Lehrkompetenz aufzusaugen.
Das dachten sich alle, die den Kurs "Luxury Industry Management" bei Prof. L. (richtiger Name der Redaktion bekannt), einem französischen Landsmann, belegt hatten. Ja, ich belege den Kurs wirklich - ich habe mir das Abwegigste herausgesucht, was mir das BIT bietet und gleichzeitig die TUM gerade noch so bereit ist als sogenannte "Querschnittsqualifikation" anzuerkennen. Querschnittsqualifikation ist die offizielle Bezeichnung, inoffiziell sind diese 12 Credits (entspricht der Leistung eines Drittel Studiensemesters in Deutschland) aber längst als "Orchideenfächer" tituliert. Die Dame, die an der TU für die Anerkennung dieser 12 Credit-Punkte zuständig ist, benötigt für diese Anerkennung auch gar keine weitergehende fachliche Qualifikation: die Fächer müssen im weiteren Sinne einen Bezug zu entweder Wirtschaft oder Technik haben, und in einem Masterprogramm angeboten werden. So einfach geht Studium - jedenfalls ein klitzekleiner Teil.

Wie dem auch sei, Prof. L. stellte sich als knapp-über-hüfthohes Männchen heraus, dessen Aussehen bedauernswerterweise durch "Promenadenmischung" am ehesten beschrieben wird: drei verschiedene Haarfarben (von nachwachsend-naturschlohweiß über fleckig-gefärbt braun zu fleckig-gefärbt pechschwarz), kombiniert mit einem vom jahrelangen Kettenrauchen gelblich-ungesundem Gesichtsteint, korrespondierender Zahnhygiene und Anzügen (ich hoffe mal Plural, in dubio pro reo), die definitiv nicht für diesen Mann, sondern für einen bedeutend Größeren gemacht wurden, etwa Napoleon. Die Stimme angenehm beruhigend (da komme ich später noch drauf zurück)wäre das ja alles noch zu entschuldigen und auf jeden Fall zu ertragen gewesen. Jedoch konzentrierte sich der "Stoff" darauf, von morgens 08:30 Uhr bis abends 17:30 Werbefilme von Luxusmarken anzuschauen - dabei konzentrierte sich die Auswahl der Marken, Wunder oh Wunder, zu über 80% auf französische Marken und Designer. Für meinen Teil war der Hunger nach "abwegigen" Kursen erstmal gestillt. Mitgehangen, mitgefangen und so bekamen wir im Laufe des Nachmittags ein Seminarthema zugeteilt, was wir in Gruppenarbeit anfertigen sollten. Hierbei ist, dies betonte der Professor ausdrücklich, eine streng wissenschaftliche Vorgehensweise (korrekte Zitationsstile, Nutzung von und Bezug auf hochrangige Journale, etc) keinesfalls notwendig, ja eigentlich übertrieben. Überdies und à propos würde er uns dringend bitten, seine Folien nicht zu photographieren - er hätte weder die Rechte zu den Filmen und Bildern, noch zu den Graphiken und theoretischen (so denn welche drinwaren habe ich sie übersehen), und dementsprechend könnte er hier in Schwierigkeiten kommen.

Andere Länder, andere Sitten; ich bin gespannt was die Bekannten berichten, die an anderen Unis in Peking und China generell unterwegs sind.

In den letzten Tagen war uns aufgefallen, dass das International Student Center, in dem wir bisher wohnten, immer mehr herausgeputzt wurde - oberflächlich jedenfalls: Flaggen wurden aufgehängt, neue Teppiche in Windeseile verlegt, neue Klimaanlagen eingebaut (ohne die fehlende Fernbedienung leider komplett nutzlos, aber stört keinen großen Geist), ein "Welcome to BIT! Let China learn more about the world - let the world learn more about China"- Banner, 3x7m groß wurde aufgestellt und Orientierungsbüchlein wurden verteilt ("Don't addict in the alcohol! Take beware of the suspicious man!" und ähnliche praxisnah anwendbare Ratschläge für das tägliche Leben in China kann man hier finden. Auch wird einem bedeutet, in den ersten Wochen das International Student Center eher nicht, den Campus jedoch keinesfalls zu verlassen und sich dann erst Schritt für Schritt in größer werdenden Kreisen dem chinesischen Leben zu nähern). Ein wahnsinniger Aufwand wird für uns betrieben, bis uns enttäuschenderweise mitgeteilt wird, dass dieser Aufwand gar nicht uns gilt. Wir sollen Sonntag Abend ratzefatz in ein brandneues Dormitory off-campus umziehen, Preis für die Unterbringung ist derselbe. Der Haken kommt am Schluss: Ob ich schon die 130 Kuai gezahlt hätte? Es müsste "eine Karte" aufgeladen werden. Aha? Ja, 30 Kuai Pfand, 100 Kuai, Guthaben. Für was denn Guthaben? Verdutzter Blick meiner reizenden chinesischen Gesprächspartnerin ob so viel Blödheit meinerseits. Na, für's Duschen natürlich, das wird jetzt im 5-Sekundentakt abgerechnet. Karte rein, Wasser Marsch, Karte raus, Trockenheit wie in der Sahara. Nun denn, wird man überleben.
Im Dorm (sieht top aus, wenn man vom äußeren Zustand absieht, und davon, dass erst zwei Stockwerke fertig sind, oben noch die Dachplatten aufgeschweißt werden und deshalb über dem Hauseingang das glühende Metall runterfliegt) dann die nächste Überraschung. Ja, noch einmal 130 Kuai bitte für die ersten 60 kWh im Voraus. ??!?! Wieso das denn? Ähnlicher Blick wie vorhin (diesmal allerdings männlich), es sei doch klar, dass bei einer externen Accomodation die variablen Lebenskosten selber getragen werden müssten? Natürlich, denke ich, doof von mir anzunehmen, dass bei der einen Unterkunft dieselben Bedingungen gelten wie bei der anderen, wenn man doch so auch noch ein wenig Reibach machen könnte. Und so läppert sich das (vorausgesetzt, man hat alles verstanden), und am Ende fragt man sich wo in diesem Land der unfassbar niedrigen Lebenskosten die Kohle eigentlich hin ist.

Wie dem auch sei, die 15qm-großen Zimmer sind brandneu, alles ist brandneu hier und ich freue mich drauf. Mache die Tür auf, drinnen strahlt mich schon Dennis, 21,  an; Max und mein bis dato unbekannter 3. Mitbewohner aus Hong Kong. Jedes der Betten hat einen Vorhang, den man drumherumziehen kann, sehr angenehm eigentlich. Nur bei einem ist er an einer Seite heruntergerissen, die Dübel klaffen dort aus der Wand, das Teil hängt windschief überm Bett - "that was me" strahlt Dennis, "so I took the other bed". Klar. Logisch. Er hätte mit der Reception gesprochen, das wäre morgen repariert, "don' worry, it will fine!".
"But no WiFi" und das Strahlen fällt in sich zusammen. Wer weiß, was für ein unverzichtbares Lebenselixier diese vier Buchstaben für junge Chinesen darstellen, ist sich des Ausmaßes dieser Katastrophe bewusst. Aber auch da hat er Abhilfe parat: "It come tomorrow also!" und das Strahlen ist wieder auf Fukushima-Niveau.

Dies war alles übrigens Sonntag; gestern gehe ich zur "Rezeption" (einem schräg stehenden Schreibtisch im Eingangsbereich des Dorms garniert mit den Essensresten des Nachwächters) und frage nach, was denn mit Reparatur und WiFi sei? "Ah, wait a moment - I think it come tomorrow!" - schaumermal, dann sehmerscho.

Ein wenig ungewohnt war, sich eine komplett neue Infrastruktur zulegen zu müssen. Obwohl der Campus keine zwei Radminuten entfernt ist - der Supermarkt ist nicht mehr in Laufweite und Restaurants gibt's auch neue zu entdecken. Nachdem wir also Montags unser Pensum für die Seminararbeit abgeleistet hatten hatte ich noch großen Hunger, der Rest der Truppe eher großen Durst (ein häufiger vorkommendes Phänomen hier) und so machten wir uns auf die Suche. Fündig wurden wir bei einem der vielen Chinese BBQs: Die gibt es überall vom Street Food wo einfach Fleischspieße über Kohle knusprig gegrillt und köstlich gewürzt werden, bis hin zu ganz alltäglichen Restaurants normaler Chinesen oder die High-End-Variante im Shangri La. Dies war zweiteres, ein 0,6l Bier kostete 5 Yuan, also ca 60 Cent und so bekam auch bald der Rest Hunger. Jan aus Darmstadt kann ein paar chinesische Charaktere und bestellte eine Runde. Zunächst kam niu rou, also Rind, dann ein wenig ji rou, Hühnchen, und erst ganz zum Schluss der Tintenfisch.

Der Tintenfisch.

Zunächst noch leicht süßlich im Auftakt, war er im Abgang das mit Abstand schärfste, was ich bisher gegessen habe. Durch einen Spieß habe ich mich, aus purer Verbohrtheit, falsch verstandener Tapferkeit und dem bescheuerten Eindruck, dass eine Ablehnung meine an sich sehr ausgeprägte Männlichkeit (h-hm) zu sehr in Frage stellen würde,  durchgekämpft. Ich hab's SO bereut.

Mir liefen Bäche an Tränen runter, mein Kreislauf fühlte sich an, wie ich mir ein Herzkammerflimmern vorstelle, mein Gesicht brannte, der Schmerz in meinen Lippen pulsierte mit meinem flimmernden Herz und mein Polohemd war innerhalb kürzester Zeit nassgeschwitzt. Berührungen der Zunge mit anderen Teilen des Mundes waren keinesfalls ertragbar. Sowas habe ich noch nie erlebt. Die Bedienungen? Die saßen in der Ecke, lachten sich kaputt und machten Photos mit ihren Huaweis.

Auch der nächste Morgen war nicht schön, näheres in entsprechenden Posts aus der Zeit in Äthiopien.

Dienstags stand ganz im Zeichen des Papers, das gut voran kommt. Abends noch einmal eine Session chez Prof. L., keine großen Änderungen des Unterrichtskonzeptes. Sehr lustig war jedoch, als der Prof zum Ende der Stunde ein "Bis nächste Woche" in allen Sprachen auf die Leinwand zauberte, die im Kurs vertreten sind. Ein Vertreter jeder Sprache sollte vorlesen. Marcin war der einzige Pole, und als die Reihe an ihn kam, war nur ein lautes Schnarchen zu hören, das bisher im Unterricht durch die gehörgangbetäubende Wiedergabe der Christian Dior- und Cartier-Werbevideos untergegangen war.

Ah ja, und es gibt Gurkenkaugummi! Ich bin nicht so der Fan, Lotte ist unter anderem davon ganz begeistert - wie auch von Gurkencrackern, Gurkenchips und Gurkeneis.

Auch Mittwochs arbeiteten Max und ich noch am Assignment, jedenfalls bis Mittags. Dann machten wir uns auf den Weg durch die Stadt nach Guomao, dort hatten wir uns mit Celeste und dem Rest der Sprachschulleute zum Mittagessen verabredet, ich hatte die ganze Crew ja seit 2 Wochen nicht mehr gesehen. Besonders hab ich mich über Jam gefreut (nach 2 Jahren zertifiziert verhandlungssicher in Chinesisch), eine Seele von Mensch und nebenbei Amerikanerin mit thailändischen Wurzeln. Sie ist nunmehr im neunten Monat schwanger und ich wollte ihr für die restlichen Wochen alles Gute wünschen.

Zur generellen Erbauung und spezifischen Verdauung machten Max und ich uns danach auf den Weg in die Eingeweide des "CBD" genannten Central Business District. Hier steht zum einen der schon erwähnte und weltberühmte "Klositz" des CCTV; trotz meines nicht besonders nett gemeinten Spitznamens architektonisch extrem beeindruckend. Zum anderen findet sich hier der China World Tower, Peking's (momentan) höchster Turm. Den wollten wir uns näher ansehen, bei Gelegenheit vielleicht sogar von oben. Gesagt getan, rein spaziert und gemerkt, hier ist ein Hotel. In einem Hotel kann man auch nach oben fahren. Selbstbewusst als ob wir exakt wüssten, wo wir hin müssen da wir ja hier sowieso ein Zimmer haben, drücken wir auf die 81 im Lift (war halt das höchste) und wir rauschen 330 Meter in die Höhe. Oben erwartet uns ein schickes Restaurant und eine chinesische Kellnerin, die nicht unbedingt mit englischem Sprachtalent gesegnet wurde. Wir machen klar, dass wir uns an ein Fenster setzen, oder gar nicht und siehe da, innerhalb von fünf Minuten wird was frei. Mit einem atemberaubendem Blick über das von der untergehenden Sonne angestrahlte Peking süppeln wir 4 Stunden an einem Nachmittagsbier (schlappe 9€ für 0,33 vom "Billig-Bier" Tsingtao - man gönnt sich ja sonst nix), lassen die Sonne untergehen und fühlen uns, als ob der Laden uns gehörte. Der Kellner schmeißt uns gegen sieben mit perfektem Timing raus und wir verschwinden in Richtung Dormitory - arge Desillusion nach den vorherigen Stunden, aber sicher sehr heilsam.

Abends hieß das Ziel, eine Kleinigkeit zu schnabulieren und etwas zu trinken. Beides ging ziemlich schief:

Zunächst wollten Anna und ich noch ein paar Djiaoze zu uns nehmen, köstliche Taschen aus dünnem Teig gefüllt mit unterschiedlichen Gemüsen und Fleischsorten, je nach Gusto. 6 pro Nase hätten uns gereicht - der Kellner hatte falsch verstanden und brachte 6 Portionen, ungefähr das dreifache der gewollten Menge. Aber auch das war letztendlich kein Problem und sie waren frisch und köstlich!

Weiter ging's mit Kevin (ihr erinnert Euch aus vorherigen Posts) und Dennis in eine Bar. Kevin kannte und liebte das Mäxchen-Spiel noch von letztem Mal, Dennis beherrschte es sehr bald - obwohl das nicht wirklich korrekt ist, was zu einem erhöhten Bierkonsum seinerseits führen musste. Am nächsten Tag beichtete er uns, dass er noch nie so wirklich Alkohol getrunken hätte und dass das das erste Mal war, dass er sich angetrunken gefühlt hätte - hätten wir das gewusst, hätte die Abendgestaltung ein wenig anders ausgesehen.

Mit uns in der Bar waren ein paar volltrunkene Koreaner, einer war vor allem unangenehm. Wir waren im Begriff zu Gehen, die Koreaner waren schon ca. 30m weg auf der Straße, als plötzlich Streit und Rangelei ausbrach. Dies sind immer kritische Situationen, vor allem in Peking: Man muss sie im Auge haben, um zu wissen ob für einen selber eine unmittelbare Gefahr besteht, aber darf einerseits nicht gaffen - sonst wird man stante pede mit hineingezogen. Diesen Mittelweg zu finden ist nicht immer leicht, aber sehr wichtig. In diesem Fall entschieden wir uns dazu, schnellstmöglich das Weite zu suchen, da ein Koreaner dazu überging, mit einem stangenähnlichen Gegenstand auf seinen Landsmann einzudreschen und ihn die Straße hinunterzujagen, während an anderer Stelle mehrere Frauen und Männer unseren Alters einander aufs Übelste vermöbelten. Benno hatte mir an meinem ersten Tag klar gemacht, dass in so einer Situation die einzig richtige Reaktion sei, so schnell wie möglich das Weite zu suchen: Zum einen wird man nie als Schlichter wahrgenommen (ein Kommilitone wollte als Schlichter eintreten und bekam es mit einer Eisenstange und einer Platzwunde über die gesamte Stirn gedankt), zum anderen hinterher gerne sowohl von "Opfern" als auch von "Tätern" für jeden Schaden verklagt, der irgendwie irgendwem entstanden ist. Auch die Polizei rufen bringt (noch) nichts, da diese kein Englisch spricht. Ziemlich geschockt, außer Atem und vor allem mit einem Gefühl der Hilflosigkeit ließen wir uns ein paar Straßen weiter bei einem Street Food-Stand nieder, der uns auf den Schock mit schon gekosteten Pancakes versorgte.

Peking ist nicht nur lustig, lustig, Tralalalala!

Aber schön ist es trotzdem.

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